Alkoholabhängigkeit

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Epidemiologie

  • Deutschland:
    • riskanter Konsum: 14%
    • schädlicher Gebrauch: 3%
    • Abhängigkeit: 3%
  • m:w = 2:1
  • höchster Anteil 17-22 J.
  • in Allgemeinkrankenhäusern (internistisch/chirurgisch) > 10% Alkholabhängigkeit, >5% schädlicher Gebrauch
  • > 50% Rückfall innerhalb 1-2 Jahre
  • weniger als 1% adäquate Therapie (Entwöhnung)
  • erhebliche Folgen:
    • körperlich: Leber, Pankreas, sexuelle Funktionsstörungen
    • sozial: Beruf, Partnerschaft, Beziehungen, Finanzen
    • psychisch: Gedächtnis/Konzentration, Selbstwert, Emotionsregulation

Neurobiologie

  • Stimulation GABA-Rezeptor → Dämpfung
  • Blockade NMDA-Rezeptor (Glutamat) → Sedierung (kompensatorisch: Anstieg der Rezeptordichte
  • Dopamin → Belohung → "Suchtgedächtnis"
  • Opiatrezeptoren → angenehme Empfindungen
  • bei Entzug:
    • Überaktivität Glutamat/NMDA → vegetative Dysfunktion
    • fehlende Dämpfung durch GABA → Krampfanfälle
  • operante Konditionierung:
    • kurzfristig angenehm C+
    • langfristig Reduktion von Entzugssymptomen C/-
    • Stimuluskontrolle (oft ritualisiert)

Folgeerkrankungen

  • Karzinogenese: gesamter GI (Mundhöhle, Ösophagus, Magen, Darm, Pankreas, Leber)
  • Kardiomyopathie: Rhythmusstörungen, Insuffizienz
  • FASD ("fetal alcohol spectrum disorder") in Schwangerschaft
  • perioperative Komplikationen
  • sozial: Verlust von Führerschein, Arbeitsplatz, Partnerschaft
  • häufig Komorbidität mit Nikotin → Risiken ↑↑

Diagnose

  • spezifisches Gewicht Alkohol: 0,8 g/cm3
  • Berechnung: Menge in Millilitern mal Volumenprozente durch 100 mal 0,8 gleich Gramm reiner Alkohol
  • 1 Flasche Bier (0,5 l) = 20 g Alkohol
  • 1 Flasche Wein (0,75 l) = 60 g Alkohol
  1. riskanter Gebrauch: dauerhaft > 24 g Alkohol/Tag (m) bzw. > 12 g Alkohol/Tag (W)
  2. schädlicher Gebrauch: körperliche oder psychische Störung bereits eingetreten (nicht soziale Probleme)
  3. Abhängigkeit (ICD-10-Kriterien):
  • in den letzten 12 Monaten mind. 3 Kriterien gleichzeitig:
  1. starker Wunsch/Zwang, Alkohol zu konsumieren
  2. verminderte Kontrolle über Beginn, Menge und Beendigung
  3. körperliche Entzugssymptome bei Beendigung/Reduktion
  4. Toleranzentwicklung
  5. Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Alkoholkonsums
  6. anhaltender Konsum trotz Nachweis schädlicher Folgen, dem dem Konsumenten bewusst sind

Screening-Fragen mit höchster Treffsicherheit (AUDIT-C)

  1. Wie oft trinken Sie sechs oder mehr alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit?
  2. Haben Sie jemals morgens zuerst Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder den Start in den Tag zu erleichtern?
  3. Hat sich infolge Ihres Alkoholkonsums im letzten Jahr etwas ereignet, von dem Sie nicht wollten, das es geschieht?

(Mitchell AJ et al. Accuracy of one or two simple questions to identify alcohol-use disorder in primary care: a meta-analysis.)

Typen

  • Elvin Jellinek, 1951
  • nicht statisch, empirisch fraglich, Übergänge und Wechsel möglich
Typ Trinkverhalten Beschreibung
α Problem-/Konflikt-/Kummer-/Erleichterungstrinker Abbau innerer Spannungen und Konflikte; Menge variabel; Gefahr psychischer Abhängigkeit; oft keine Abhängigkeit, aber schädlicher Gebrauch
β Gelegenheitstrinker bei sozialen Anlässen, große Mengen, aber sozial und psychisch unauffällig; Alkoholkonsum als "Lebensstil"; keine Abhängigkeit, aber schädlicher Gebrauch
γ Rauschtrinker wechselnde Phasen von Abstinenz und regelm. Konsum; typisch Kontrollverlust; schädlicher Gebrauch
δ Pegel-/Spiegeltrinker Menge variabel, mit Dauer meist zunehmend; oft lange sozial unauffällig ("funktionierender Alkoholiker"), selten erkennbar betrunken; körperliche Abhängigkeit, körperliche Folgeschäden, keine Abstinenz
ε Quartalstrinker Phasen exzessiven Alkoholkonsums mit Kontrollverlust über Tage/Wochen, dazwischen auch monatelang abstinent;

klinische Hinweise

  • körperliche Untersuchung: PNP, Spider naevi, Rhinophym, Foetor alcoholicus)
  • Labor: GOT, GPT, gamma-GT, MCV, CDT

DSM-5

  • nur noch eine Diagnose "alkoholbezogene Störung" mit 11 Kriterien
  • Unterscheidung mild/moderat/schwer

Verhaltensanalyse

  • Analyse eines Trinktages
  • Time-Line → 3-6 Monate
  • Lebenslinie (Bioggraphie)
  • Tagebücher → Trigger, Risikosituationen

Therapie

  • Ziel:
    • in Deutschland immer lebenslange Abstinenz ("trockener Alkoholiker")
    • in anderen Ländern (Schweiz, angloamerikanisch) auch "kontrolliertes Trinken": nur bei gescheiterten Abstizenzversuchen, mangelnder Abstinenzmotivation
  • Kostenträger:
    • Akutbehandlung/Entzug → GKV
    • Entwöhnung → DRV (medizinische Rehabilitation)
  • Stadien/Therapiephasen
    1. Motivation → wesentliches Therapieziel!
      • Psychoedukation, Verdeutlichung der körperlichen/psychosozialen Folgen
      • Einbeziehung des sozialen Umfelds, Co-Abhängigkeit
    2. Entgiftung/Entzugsbehandlung → Abstinenz, siehe Entzug
      • in D meist stationär 1-3 Wochen
      • körperlicher Entzug meist 3-5 Tage
      • Entzugssymptome:
        • Übelkeit, Nervosität, Schlafstörungen, Craving ("Saufdruck"), Gereiztheit, depressive Verstimmung
        • starkes Schwitzen, Zittern (vor allem der Hände), grippeähnliche Symptome
        • Prädelir: Halluzinationen, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Schwitzen/Zittern, Krampfanfälle
      • Komplikationen:
        • Delirium tremens: Desorientiertheit, Übererregbarkeit, psychotische Erscheinungen (illusionäre Verkennung, optische/taktile Halluzinationen, vegetative Entgleisung mit Fieber, Bluthochdruck, Tachykardie, Hyperhidrose, Tremor
        • 7% der Delirien lebensgefährlich mit schweren Kreislaufstörungen
        • Krampfanfälle
        • Wernicke-Encephalopathie: Vitamin B1/Thiamin
      • protrahiertes Entzugssyndrom: Rückfallgefahr, Suizidrisiko
      • medikamentöse Unterstützung
        • in D meist Clomethiazol (Distraneurin)
        • Benzodiazepine: Lorazepam, Diazepam, Clonazepam (Rivotril)
        • Bernburg Schema: Carbamazepin 200 mg + Tiaprid 300 mg, jeweils 4xtgl. d1-5, Ausschleichen d6-d12
          • beide Substanzen nicht abhängig-machend → Vorteil für ambulante Entgiftung
          • Carbamazepin gegen Entzugskrämpfe
          • Tiaprid (Neuroleptikum) gegen vegetative Entzugsbeschwerden
          • keine starke Sedierung → begleitende Therapie möglich
    3. Entwöhnung:
      • moderne Akuttherapie: qualifizierte Entzugsbehandlung
        • 3-6 Wochen
        • Entgiftung + Motivation zur Entwöhnung + Kontakte Sozialpsychiatrie + Selbsthilfegruppen
    4. Langzeitbehandlung:
      • Ziele: Abstinenzerhaltung, Rückfallprophylaxe
      • frühzeitiger therapeutischer Kontakt
      • Interventionen mt Fokus auf Abgängigkeitserkrankung
      • konkrete Ziele
      • konkrete pathologische Befunde und deren Besserung unter Abstinenz
      • Informationen über weitere Angebote
      • aktive Hilfe bei anliegenden Problemen
      • hausärztliche Nachsorge: Abstinenzkontrolle, Rückfallmanagement
      • Motivation, Hilfe anzunehmen
      • Langzeit-Ziel: zufriedene Abstinenz (oft erst nach Monaten bis Jahren)
      • Rückfallprävention:
        • Ablehnungstraining
        • Expositionsübungen
        • Notfallplan
        • Einbezug von Angehörigen
      • wichtigster Faktor: regelmäßige Teilnahme an Selbsthilfegruppe

medikamentöse Rückfallprophylaxe

  • Disulfiram (Antabus): hemmt Acetaldehyddehydrogenase → Akkumulation von Acetaldehyd → aversive Wirkung, nur unter fachärztlicher Aufsicht → nicht mehr zugelassen
  • Acamprosat: NMDA-Rezeptor-Blockade (Glutamat-Antagonist) → mindert Suchtdruck
  • Naltrexon: Opiat-Rezeptor-Antagonist → mindert "Belohnungseffekt" durch Alkohol
  • Baclofen (Gaba-B-Antagonist): noch nicht zugelassen

Weblinks