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https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie
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== Bindungstheorie ==
== Grundlagen ==


* engl. attachment
* Bindung (engl. ''attachment'') = enge emotionale Beziehung zwischen Menschen
* psychologische Theorie: angeborenes Bedürfnis, enge Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen
* psychologische Theorie: angeborenes Bedürfnis, enge Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen
* John Bowlby (Kinderpsychiater, England) → Heim für verhaltensauffällige Jugendliche
* John Bowlby (Kinderpsychiater, England) → Heim für verhaltensauffällige Jugendliche
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* Untersuchung an Rhesusaffen: Affenjunge suchen körperliche Nähe zu Mutterattrappen, die mit Fell bedeckt sind, sie aber nicht füttern, aber nicht zu Drahtattrappen, die sie zwar füttern, aber nicht mit Fell bedeckt sind → Widerlegung der klassisch psychoanalytischen und lerntheoretischen These, dass die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind hauptsächlich durch das Füttern bestimmt ist
* Untersuchung an Rhesusaffen: Affenjunge suchen körperliche Nähe zu Mutterattrappen, die mit Fell bedeckt sind, sie aber nicht füttern, aber nicht zu Drahtattrappen, die sie zwar füttern, aber nicht mit Fell bedeckt sind → Widerlegung der klassisch psychoanalytischen und lerntheoretischen These, dass die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind hauptsächlich durch das Füttern bestimmt ist
* starke Anfeindungen von Psychoanalytikern (Melanie Klein, Anna Freud)
* starke Anfeindungen von Psychoanalytikern (Melanie Klein, Anna Freud)
== Bindungstheorie ==
* spezielle Bindung Kleinkind → Eltern/Bezugspersonen
* bei "Alarmsituation" (subjektiver Gefahr, Bedrohung, Angst, Schmerz) → emotionaler Stress → Wunsch nach Schutz und Beruhigung → Kontaktsuche der Bezugsperson (Blickkontakt, körperliche Nähe)
* '''Bindungsverhalten''': beobachtbare Verhaltensweisen wie Lächeln, Schreien, Festklammern, Zur-Mutter-Krabbeln, Suchen der Bezugsperson → genetisch vorgeprägt bei allen Primatenkindern
* während Explorationsverhalten häufige Rückversicherung durch Blickkontakt
Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das „ursprüngliche“, direkt beobachtbare Bindungs- und Explorationsverhalten im Sinne von Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr so offensichtlich. Dennoch hat die Forschung auf Basis der Bindungstheorie Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gefunden. Durch die individuellen Unterschiede in der Eltern-Kind-Interaktion in den ersten Lebensjahren werden nach Bowlby die inner working models (engl. für „innere Wirkungs-/Arbeitsmodelle“) gebildet. Diese werden im Verlauf der Entwicklung in der Psyche eines Menschen relativ stabil repräsentiert (also abgebildet).
Das inner working model beinhaltet die individuellen frühen Bindungserfahrungen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind gegenüber menschlichen Beziehungen hegt. Sie dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und ihr Verhalten vorherzusagen.[18] Nach der Entwicklung im ersten Lebensjahr werden die inner working models zunehmend stabiler. Sie bilden sich zu Bindungsrepräsentationen aus.[19] Während der Begriff der Bindungsrepräsentanz eher auf die psychoanalytische Tradition zurückgeführt werden kann, würden Kognitionspsychologen hier eher von Schemata, also Bindungsschemata sprechen.
Wesentlich ist, dass die sich entwickelnden Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und somit eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität die Feinfühligkeit der Bezugspersonen entscheidend. Unter Feinfühligkeit wird situationsangemessenes und promptes Reagieren erwachsener Bezugspersonen auf die Äußerungen und Bedürfnisse des Säuglings verstanden. Insofern ist das spätere Bindungsverhalten des Kindes weniger Spiegelbild seines Temperaments oder Charakters, sondern primär Ausdruck der erlebten Interaktion mit der Bezugsperson.
Der Begriff Interaktion (synonym: Wechselwirkung) ist eine Bezeichnung zwischenmenschlichen wechselseitigen Verhaltens. In der Sozialpsychologie steht der Begriff heute für jede Art der Wechselwirkung oder wechselseitigen Bedingtheit im sozialen Kontext. John Bowlby hatte ihn zuerst in seinem Aufsatz Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung[20] im Zusammenhang mit dem Sozialverhalten verwendet. Der auf Basis der Bindungstheorie entstandenen empirischen Forschung ist es gelungen, das zum Bindungsverhalten führende frühe Interaktionsverhalten mittels des „Fremde-Situations-Tests“ (s. u.) zu operationalisieren und somit empirisch fassbar zu machen. Dabei interessiert besonders die Feinfühligkeit seitens der Bezugsperson, auf Seiten des Kindes das sich entwickelnde Bindungsverhalten sowie der Zusammenhang zwischen beidem.
Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zur sechsten Lebenswoche kann hierbei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Dann entsteht – etwa gleichzeitig mit dem ersten personenbezogenen Lächeln – eine zunehmend festere Bindung zu einer oder mehreren Personen (bspw. Mutter, Vater, Geschwister oder Pflegemutter). Sobald das Kind sich fortbewegen kann (Lokomotion), ist es ab dem siebten bis achten Monat fähig, sich entweder aktiv in die Nähe der Bezugsperson zu bewegen oder von dieser weg die Umgebung selbstständig zu erkunden (Individuationsphase). Dies wird möglich auf Grund der jetzt wachsenden Objektpermanenz, welche dem Kind die innere Vorstellung eines Objekts ermöglicht, ohne dass ein solches direkt anwesend ist. Ab etwa dem dritten Lebensjahr versucht das Kind das Verhalten des anderen je nach Situation zu beeinflussen.[21]
Mit dem Bindungsverhalten versucht das Kind Trost von seiner Bezugsperson zu bekommenVierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby 1969:
1.Vorphase: bis ca. 6 Wochen
2.Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat
3.Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat
4.Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren
Das individuelle Bindungsverhalten/der Bindungstyp eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Hierbei bilden die ersten sechs Lebensmonate die Phase stärkster Prägung. Es kann jedoch von gewisser Plastizität ausgegangen werden: Bindungsverhalten ändert sich gegebenenfalls bei entsprechenden Erfahrungen im Verlauf der Kindheit und Jugend. Hierbei haben sich bestimmte, die Bindung betreffende Schutz- und Risikofaktoren (wie z. B. eine im späteren Leben auftauchende, sichere Bindung oder aber Psychotraumata) als wichtige Einflüsse erwiesen. Im Erwachsenenalter gilt es als relativ konstant und bestimmt spätere enge Beziehungen. Die frühe Mutter-Kind-Interaktion zeigt somit die Tendenz zur Generalisierung. Darüber hinaus belegen Forschungen, dass das Bindungsmuster einen transgenerativen Aspekt aufweist: Unsicher gebundene Kinder haben, wenn sie Eltern werden, überdurchschnittlich häufig wieder unsicher gebundene Kinder. Mittels spezifischer Testverfahren kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von Aussagen werdender Mütter über ihr Ungeborenes die spätere Entwicklung eines bestimmten Bindungstypus des Kindes vorhergesagt werden.[22][23][15] [19]
Im Verlauf ontogenetischer Entwicklung wurden signifikante Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität im Alter von einem Jahr und einer Psychopathologie im Alter von sechs Jahren gefunden.[24] Neuere Forschungen in dem Bereich weisen zudem signifikante Zusammenhänge zwischen sicherer Bindung und psychischer Stabilität bzw. unsicherer Bindung und psychopathologischen Störungen (emotionale Störungen des Jugendalters, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Impulskontrollstörungen und Abhängigkeitserkrankungen) hin.

Version vom 2. September 2015, 13:02 Uhr

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie

Grundlagen

  • Bindung (engl. attachment) = enge emotionale Beziehung zwischen Menschen
  • psychologische Theorie: angeborenes Bedürfnis, enge Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen
  • John Bowlby (Kinderpsychiater, England) → Heim für verhaltensauffällige Jugendliche
  • James Robertson (Psychoanalytiker, Schottland) → Kinderheim von Anna Freud
  • Mary Ainsworth (Psychologin, USA) → "Ugandastudie"
  • basiert früher Mutter-Kind-Beziehung
  • angeborenes Verhalten, evolutionäre Funktion: Schutz
  • Einflüsse vonkonrad Lorenz → Prägung
  • Untersuchung an Rhesusaffen: Affenjunge suchen körperliche Nähe zu Mutterattrappen, die mit Fell bedeckt sind, sie aber nicht füttern, aber nicht zu Drahtattrappen, die sie zwar füttern, aber nicht mit Fell bedeckt sind → Widerlegung der klassisch psychoanalytischen und lerntheoretischen These, dass die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind hauptsächlich durch das Füttern bestimmt ist
  • starke Anfeindungen von Psychoanalytikern (Melanie Klein, Anna Freud)

Bindungstheorie

  • spezielle Bindung Kleinkind → Eltern/Bezugspersonen
  • bei "Alarmsituation" (subjektiver Gefahr, Bedrohung, Angst, Schmerz) → emotionaler Stress → Wunsch nach Schutz und Beruhigung → Kontaktsuche der Bezugsperson (Blickkontakt, körperliche Nähe)
  • Bindungsverhalten: beobachtbare Verhaltensweisen wie Lächeln, Schreien, Festklammern, Zur-Mutter-Krabbeln, Suchen der Bezugsperson → genetisch vorgeprägt bei allen Primatenkindern
  • während Explorationsverhalten häufige Rückversicherung durch Blickkontakt

Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das „ursprüngliche“, direkt beobachtbare Bindungs- und Explorationsverhalten im Sinne von Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr so offensichtlich. Dennoch hat die Forschung auf Basis der Bindungstheorie Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gefunden. Durch die individuellen Unterschiede in der Eltern-Kind-Interaktion in den ersten Lebensjahren werden nach Bowlby die inner working models (engl. für „innere Wirkungs-/Arbeitsmodelle“) gebildet. Diese werden im Verlauf der Entwicklung in der Psyche eines Menschen relativ stabil repräsentiert (also abgebildet).

Das inner working model beinhaltet die individuellen frühen Bindungserfahrungen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind gegenüber menschlichen Beziehungen hegt. Sie dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und ihr Verhalten vorherzusagen.[18] Nach der Entwicklung im ersten Lebensjahr werden die inner working models zunehmend stabiler. Sie bilden sich zu Bindungsrepräsentationen aus.[19] Während der Begriff der Bindungsrepräsentanz eher auf die psychoanalytische Tradition zurückgeführt werden kann, würden Kognitionspsychologen hier eher von Schemata, also Bindungsschemata sprechen.

Wesentlich ist, dass die sich entwickelnden Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und somit eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität die Feinfühligkeit der Bezugspersonen entscheidend. Unter Feinfühligkeit wird situationsangemessenes und promptes Reagieren erwachsener Bezugspersonen auf die Äußerungen und Bedürfnisse des Säuglings verstanden. Insofern ist das spätere Bindungsverhalten des Kindes weniger Spiegelbild seines Temperaments oder Charakters, sondern primär Ausdruck der erlebten Interaktion mit der Bezugsperson.

Der Begriff Interaktion (synonym: Wechselwirkung) ist eine Bezeichnung zwischenmenschlichen wechselseitigen Verhaltens. In der Sozialpsychologie steht der Begriff heute für jede Art der Wechselwirkung oder wechselseitigen Bedingtheit im sozialen Kontext. John Bowlby hatte ihn zuerst in seinem Aufsatz Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung[20] im Zusammenhang mit dem Sozialverhalten verwendet. Der auf Basis der Bindungstheorie entstandenen empirischen Forschung ist es gelungen, das zum Bindungsverhalten führende frühe Interaktionsverhalten mittels des „Fremde-Situations-Tests“ (s. u.) zu operationalisieren und somit empirisch fassbar zu machen. Dabei interessiert besonders die Feinfühligkeit seitens der Bezugsperson, auf Seiten des Kindes das sich entwickelnde Bindungsverhalten sowie der Zusammenhang zwischen beidem.

Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zur sechsten Lebenswoche kann hierbei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Dann entsteht – etwa gleichzeitig mit dem ersten personenbezogenen Lächeln – eine zunehmend festere Bindung zu einer oder mehreren Personen (bspw. Mutter, Vater, Geschwister oder Pflegemutter). Sobald das Kind sich fortbewegen kann (Lokomotion), ist es ab dem siebten bis achten Monat fähig, sich entweder aktiv in die Nähe der Bezugsperson zu bewegen oder von dieser weg die Umgebung selbstständig zu erkunden (Individuationsphase). Dies wird möglich auf Grund der jetzt wachsenden Objektpermanenz, welche dem Kind die innere Vorstellung eines Objekts ermöglicht, ohne dass ein solches direkt anwesend ist. Ab etwa dem dritten Lebensjahr versucht das Kind das Verhalten des anderen je nach Situation zu beeinflussen.[21]


Mit dem Bindungsverhalten versucht das Kind Trost von seiner Bezugsperson zu bekommenVierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby 1969:

1.Vorphase: bis ca. 6 Wochen 2.Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat 3.Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat 4.Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren Das individuelle Bindungsverhalten/der Bindungstyp eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Hierbei bilden die ersten sechs Lebensmonate die Phase stärkster Prägung. Es kann jedoch von gewisser Plastizität ausgegangen werden: Bindungsverhalten ändert sich gegebenenfalls bei entsprechenden Erfahrungen im Verlauf der Kindheit und Jugend. Hierbei haben sich bestimmte, die Bindung betreffende Schutz- und Risikofaktoren (wie z. B. eine im späteren Leben auftauchende, sichere Bindung oder aber Psychotraumata) als wichtige Einflüsse erwiesen. Im Erwachsenenalter gilt es als relativ konstant und bestimmt spätere enge Beziehungen. Die frühe Mutter-Kind-Interaktion zeigt somit die Tendenz zur Generalisierung. Darüber hinaus belegen Forschungen, dass das Bindungsmuster einen transgenerativen Aspekt aufweist: Unsicher gebundene Kinder haben, wenn sie Eltern werden, überdurchschnittlich häufig wieder unsicher gebundene Kinder. Mittels spezifischer Testverfahren kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von Aussagen werdender Mütter über ihr Ungeborenes die spätere Entwicklung eines bestimmten Bindungstypus des Kindes vorhergesagt werden.[22][23][15] [19]

Im Verlauf ontogenetischer Entwicklung wurden signifikante Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität im Alter von einem Jahr und einer Psychopathologie im Alter von sechs Jahren gefunden.[24] Neuere Forschungen in dem Bereich weisen zudem signifikante Zusammenhänge zwischen sicherer Bindung und psychischer Stabilität bzw. unsicherer Bindung und psychopathologischen Störungen (emotionale Störungen des Jugendalters, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Impulskontrollstörungen und Abhängigkeitserkrankungen) hin.