Zwangsstörungen: Unterschied zwischen den Versionen

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** Bezugspersonen einbeziehen
** Bezugspersonen einbeziehen
** kein Wirksamkeitsnachweis für psychodynamische Therapie und andere Verfahren
** kein Wirksamkeitsnachweis für psychodynamische Therapie und andere Verfahren
** stationäre Therapie bei
*** vitaler Gefährdung
*** schwerer Vernachlässigung/Verwahrlosung
*** Unmöglichkeit eines normalen Tagesablaufs und ambulanter Therapie
*** starkem Leidensdruck, starker Beinträchtigung der psychosozialen Funktionsfähigkeit
*** Versagen leitliniengerechter ambulanter Therapie
*** erschwerender psychischer/somatischer Komorbidität
*** Fehlen leitliniengerechter ambulanter Therapiemöglichkeit
** Rückfallprophylaxe: Booster-Sitzungen, Selbsthilfegruppen, ambulante Therapie
** Rückfallprophylaxe: Booster-Sitzungen, Selbsthilfegruppen, ambulante Therapie
* '''Pharmakotherapie''':
* '''Pharmakotherapie''':
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** neben Symptomreduktion auch Verbesserung des subjektiven Lebensqualität, Aktivität, Teilhabe, Beziehungen
** neben Symptomreduktion auch Verbesserung des subjektiven Lebensqualität, Aktivität, Teilhabe, Beziehungen
** Shared decision making = Patient in Entscheidungen einbeziehen
** Shared decision making = Patient in Entscheidungen einbeziehen
** Ergotherapie möglich


== Kognitiv-behaviorales Modell ==
== Kognitiv-behaviorales Modell ==

Version vom 14. Februar 2016, 18:28 Uhr

Leitlinie

  • Diagnostischer Stufenplan
    1. Screening: 5 Fragen
      1. Waschen oder Putzen Sie sehr viel?
      2. Kontrollieren Sie sehr viel?
      3. Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?
      4. Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?
      5. Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?
    2. bei Verdacht: ICD-10-Zwangsstörung
    3. bei Hinweisen somatische Diagnostik
    4. Ausprägung, Verlaufsdiagnostik (z.B. Y-BOCS)
    5. Auswirkungen: Aktivität, Teilhabe, Lebensqualität, Beziehungen
    6. Fremdanamnese → Bezugspersonen
    7. bei Alter > 50 J. → hirnorganische Abklärung
  • Psychotherapie
    • störungsspezifische KVT mit Exposition und Reaktionsmanagement
    • alternativ ACT
    • Einzel oder Gruppe
    • Therapiedauer bis klinische Besserung (Y-BOCS-Reduktion > 50%)
    • Exposition in Therapeutenbegleitung
    • Ziel: Selbstmanagement → selbständige Expos
    • idealerweise außerhalb der Praxis/Klinik, im häuslichen Umfeld
    • Therapie über Internet/Telefon wirksam
    • Bezugspersonen einbeziehen
    • kein Wirksamkeitsnachweis für psychodynamische Therapie und andere Verfahren
    • stationäre Therapie bei
      • vitaler Gefährdung
      • schwerer Vernachlässigung/Verwahrlosung
      • Unmöglichkeit eines normalen Tagesablaufs und ambulanter Therapie
      • starkem Leidensdruck, starker Beinträchtigung der psychosozialen Funktionsfähigkeit
      • Versagen leitliniengerechter ambulanter Therapie
      • erschwerender psychischer/somatischer Komorbidität
      • Fehlen leitliniengerechter ambulanter Therapiemöglichkeit
    • Rückfallprophylaxe: Booster-Sitzungen, Selbsthilfegruppen, ambulante Therapie
  • Pharmakotherapie:
    • Monotherapie nur, wenn KVT abgelehnt wird oder nicht durchgeführt werden kann (Schwere der Symptomatik, Verfügbarkeit), Ziel: Bereitschaft und Möglichtkeit für KVT
    • SSRI: Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram (in D nicht zugelassen) gleich wirksam
    • in maximaler Dosierung einsetzen, auch zur Erhaltungstherapie
    • Clomipramin gleich wirksam, aber UAW↑ → nur zweite Wahl bei Nichtansprechen auf mind. 2 SSRI
    • TZA, Mirtazapin, Buspiron, Benzodiazepine nicht wirksam
    • SNRI nur zweite Wahl (off label)
    • UAW beachten
    • mindestens 12 Wochen
    • bei mangelndem Ansprechen: Compliance, Dosis, Serumspiegel?
    • Augmentation:
      • Kombination SSRI/Clomipramin
      • Lithium, Pindolol, Nortryptilin, Desipramin nicht wirksam
      • Risperidon, Haloperidol oder Quetiapin (v.a. bei komorbider Tic-Störung)
        • bei Nicht-Ansprechen nach 6 Wochen wieder absetzen
        • nicht zur Monotherapie
    • zur Vermeidung von Rückfällen 1-2 Jahre, Ausschleichen über mehrere Monate unter engmaschiger Beobachtung
  • Kombinationstherapie:
    • KVT + Psychopharmakotherapie
      • besser wirksam
      • schnellerer Wirkungseintritt
      • bei komorbider Angststörung oder Depression
      • wenn Monotherapie nicht ausreichend
  • andere Verfahren:
    • TMS nicht wirksam
    • EKT nicht wirksam
    • tiefe Hirnstimulation:
      • bei schwerstbetroffenen Patienten
      • bei therapierefraktärer Zwangsstörung
      • nur im Rahmen klinischer Studien
  • Sonstige Empfehlungen:
    • Aufklärung und Informationsvermittlung, auch von Bezugspersonen/Angehörigen
    • neben Symptomreduktion auch Verbesserung des subjektiven Lebensqualität, Aktivität, Teilhabe, Beziehungen
    • Shared decision making = Patient in Entscheidungen einbeziehen
    • Ergotherapie möglich

Kognitiv-behaviorales Modell

nach Salkovski

  • zwei Komponenten mit unterschiedlicher Funktion:
    1. Stimuluskomponente
    2. Reaktionskomponente + Filterprozess


  1. Aufdringlicher Gedanke
    • Elemente der menschlichen Informationsverarbeitung (Situationsbeschreibung)
    • Willkürlich auftretende Gedanken (Intrusionen)
    • Bsp.: „Ich könnte ein Kind verletzen…“
  2. Filterprozess = Bewertung
    • Durch Prozess der Selektion und Bewertung erlangen aufdringliche Gedanken eine Bedeutung
    • Dysfunktionale Schemata greifen in diesen Prozess ein
      → Katastrophisierende Fehlinterpretation
      → Gedanken werden als höchst relevant, negativ und nicht zulässig erlebt
    • Dysfunktionale Schemata aktivieren Metakognitionen:
      1. Thought-action fusion: "Wenn ich etwas denke, werde ich es auch tun."
      2. Thought-event fusion: "Wenn ich etwas denke, wird es Realität."
      3. Thought-object fusion: Wenn ich etwas denke, wird es auf einen Gegenstand überspringen / er wird kontaminiert werden."
  3. Emotionale Reaktion
    • Durch die Bewertung des Gedankens wird Unruhe, Erregung oder Angst ausgelöst
  4. Neutralisierung
    • Emotionale Reaktion impliziert einen Handlungsbedarf
      → Ausführung des eigentlichen Zwanges
    • kann sowohl auf der Handlungs- als auch kognitiven Ebene stattfinden
    • Funktion: Abwenden von der mit dem aufdringlichen Gedanken verbundenen Gefahr
  5. Rückkoppelungsprozess
    • Neutralisierung
      1. wirkt kurzfristig angstreduzierend → Bestätigung für die Wirksamkeit des Verhaltens als präventive Maßnahme
      2. verstärkt dysfunktionale Annahmen über Verantwortung für Nichteintreten der Katastrophe ("omission bias")
      3. erhöht Bedeutsamkeit und damit Auftretenshäufigkeit der aufdringlichen Gedanken
    • Unterdrückung der Gedanken
      • Der Versuch, die Gedanken zu unterdrücken, ist ein weiteres Signal für deren Bedeutsamkeit
        → führt zu vermehrtem Auftreten der Gedanken (Aufschaukelungsprozess)
    • Affektive Störungen haben insofern Einfluss, als Stimmungsbeeinträchtigungen die Zugänglichkeit und Akzeptanz der dysfunktionalen Schemata erhöhen
      → ungünstige Beeinflussung der Relevanz und Frequenz der aufdringlichen Gedanken
    • Entscheidend im Modell sind die inadäquaten Bewertungsprozesse:
      • Wahrnehmung einer Bedrohung
      • Überschätzung der persönlichen Verantwortung
    • beide Überzeugungen interagieren miteinander und potenzieren sich in ihrer negativen Wirkung
    • Gefahr = Wahrscheinlichkeit x Konsequenzen

Netzwerktheorie nach Foa et al.

  • Ergänzung zu kognitiven Modellen
  • Fokus auf Struktur der Emotions- und Informationsverarbeitungsprozessen
  • Ausgangspunkt: Emotionen werden in Form einer Netzwerkstruktur im Gedächtnis abgebildet
  • Drei Arten von Infos, die über assoziative Verknüpfungen miteinander verbunden sind:
    1. Angstauslösende Stimulusbedingungen
    2. Verbale, physiologische und behaviorale Reaktionsmöglichkeiten
    3. Bedeutung dieser Reiz- und Reaktionselemente
  • Angstnetzwerke sind im Vergleich zu normalen Gedächtnisstrukturen…
    • kohärent
      • sehr verzweigte Netzwerke
      • bereits minimale Info reicht aus, gesamte Struktur zu aktivieren und Angst auszulösen.
    • stabil
      • korrektive Infos können schlecht integriert werden
    • irrational
  • Patienten weisen kognitive Beeinträchtigungen in vier Bereichen auf:
    1. Überschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Schadens/Unglücks
    2. Überschätzung der Konsequenzen eines Schadens/einer Handlung
    3. Überschätzung der eigenen Verantwortung
    4. Überschätzung der Bedeutung der Zwangsgedanken
    5. Übertriebenes Sicherheit- und Kontrollbedürfnis
    6. Magisches Denken

Symptome (aus wikipedia)

Zwangsgedanken

  • inhaltliche Denkstörungen im Sinne sich zwanghaft immer wieder aufdrängender, jedoch als unsinnig erkannter Denkinhalte
  • häufig auch formale Denkstörungen (Perseverationen, Gedankenkreisen/Gedankenarmut, überwertige Ideen)


  • Zwangsideen/Zwangsbefürchtungen/Zwangsvorstellungen: z.B. Befürchtung, etwas nicht richtig gemacht zu haben; Angst, dass dem Ehepartner etwas Schlimmes zustoßen könnte
  • Zwangsimpulse: z.B. schädigende Handlungen gegen sich oder andere
  • Grübelzwang: bestimmte Gedanken müssen wieder und wieder durchdacht werden ohne Möglichkeit, dabei zu einer Entscheidung oder zu einer Lösung zu kommen
  • quälende Zweifel: Unsicherheit, Handlungen nicht zufrieden stellend abgeschlossen, etwas falsch verstanden, getan oder unterlassen zu haben


häufige Themen:

  • Schmutz oder Verseuchung (Exkremente, Schmutz, Staub, Samen, Menstruationsblut, Keime, Infektionen)
  • Gewalt und Aggression (körperlicher oder verbaler Angriff auf sich selbst oder andere Personen; Unfälle, Missgeschick, Krieg, Katastrophen, Tod)
  • Ordnung (Ordentlichkeit, Symmetriebestrebungen usw.)
  • Religion/Magie (Existenz Gottes, religiöse Praktiken und Rituale, Glaubenssätze, moralische Einstellungen)
  • Sexualität (sexuelle Handlungen an sich oder anderen, inzestuöse Impulse, sexuelle Leistungsfähigkeit)

Zwangshandlungen

  • Handlungsstereotypien
  • Ich-dyston
  • teilweise Zwangsritual


Beispiele:

  • Reinlichkeitszwang, z.B. Waschzwang
  • Kontrollzwang: ständige Überprüfung von bestimmten Dingen, wie Herdplatten, Türschlössern, Gashähnen, Aschenbechern, wichtigen Papieren
  • Ordnungszwang: es wird versucht, in der Umgebung immerzu Symmetrie, Ordnung oder ein Gleichgewicht herzustellen, indem Dinge wie Bücher, Kleidung oder Nahrungsmittel nach strengen Regeln perfekt geordnet sind
  • Berührzwang = Zwang, Dinge anzufassen oder gerade nicht anzufassen
  • Zählzwang (Arithmomanie) = alle Dinge, die im Alltag auftauchen, werden gezählt
  • verbale Zwänge = Ausdrücke, Sätze oder Melodien werden immer wieder wiederholt

Diagnostik

  • Zwangshierarchie = Angsthierarchie (Gedanken, Handlungen)
  • Y-BOCS
  • Vermeidungsverhalten

Therapie

Psychotherapie

  • Gold-Standard: Exposition mit Reaktionsverhinderung (ERP) mit/ohne begleitende kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
  • Stichtagsregelung
  • Alternative: Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)

Medikamente

  • Antidepressiva hochdosiert (Dosis-Wirkungs-Beziehung)
  • bei komorbider Depression oder fehlender Wirksamkeit einer lege artis durchgeführten (!) KVT
  • bei fehlender Therapiemöglichkeit (z.B. schwere Zwänge)
  • SSRI (Fluvoxamin / Paroxetin) oder Clomipramin (UAW!)
  • Wirkeintritt frühestens nach 4 Wochen, max Wirkung nach 8-12 Wochen (!)
  • Rückfallquote nach Absetzen 80% ⇒ mind. 1-2 Jahre einnehmen, langsam über Monate ausschleichen, auf Symptom-Rückkehr achten

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