Vergebung

Aus psych-med

Definition

  • Vergebung = Verzicht einer Person, die sich als Opfer empfindet, auf den Schuldvorwurf und auf den Anspruch der Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts, ohne die erlittene Verletzung zu relativieren oder zu entschuldigen
  • primär innerseelischer Vorgang/psychischer Prozess, unabhängig von Einsicht und Reue des Täters
  • Copingstrategie zur Bewältigung der belastenden Folgen einer äußeren oder inneren
  • Befreiung aus der Opferrolle, ist nicht mehr "nachtragend" → entlastet
  • länger dauernder, mehrstufiger Prozess
  • Vergebung kann von niemandem gefordert werden → freie Entscheidung und Entschluss des "Opfers"
  • tut man für sich, nicht für den anderen
  • DD Verzeihen: Einbezug und Austausch mit "Täter" über verletzende Handlung
  • DD Versöhnung: Fortsetzen der Beziehung ohne Belastung; nur sinnvoll bei Reue, Entschuldigung und Versuch der Wiedergutmachung durch den Täter

Vergebung ist nicht

  • Vergessen
  • Relativieren
  • Akzeptieren
  • Gutheißen
  • Begnadigen
  • Verleugnen
  • Rechtfertigen

wann sinnvoll

  • wenn kein „korrektiver Austausch“ zwischen Täter und Opfer möglich ist, z.B. nach Tod des Täters
  • wenn Wut, Angst, Ärger, Grübeln oder Scham unverhältnismäßig stark sind oder sehr lange andauern → „Posttraumatische Verbitterungsstörung“ nach Michael Linden mit Intrusionen und Vermeidungsverhalten
  • bei Unmöglichkeit des Opfers, sich aus der negativen Bindung an den Täter zu lösen
  • nach Enright: Unversöhnlichkeit, Bitterkeit, Ressentiments und Wut = vier Mauern einer Gefängniszelle; Vergebung = Schlüssel, mit dem die Gefängnistür geöffnet werden kann.

Prozessmodell und Interventionen

  • Die Verletzung hat zu körperlichen, seelischen, ideellen oder materiellen Verlusten geführt. Diese Verluste sind zu betrauern. Insofern ist Trauerarbeit ein Teil des Vergebungsprozesses.

nach Schwennen

  1. Wahrnehmung einer "Verfehlung"
  2. Kausalattribution: Wer ist der Urheber des Eriegnisses oder Verhaltens?
  3. Verantwortungsattribution: Wer ist Schuld an der Verfehlung? → der Täter → er hätte anders handeln können, konnte die Folgen absehen und hat sie dennoch in Kauf genommen oder sie sogar beabsichtigt
  4. Empathie gegenüber „Täter"
  5. Bearbeitung der eigenen negativen affektiven Reaktionen
  6. Erreichen von Vergebung → inneren Frieden, Beendigung von Wut, Hass, Grübeln, Verminderung von Beschwerden

nach Enright

  • 20 „Wegweiser“ zur Vergebung, die in vier Gruppen eingeteilt werden
    1. die eigene Wut freilegen
    2. sich zur Vergebung entschließen
    3. am Vergebungsprozess arbeiten, u.a. Empathie mit dem Täter entwickeln
    4. Erkennen und sich aus dem Gefängnis seiner Emotionen befreien
  1. Erste Phase: Die eigene Wut freilegen
    Um vergeben zu können, müssen Sie über die Frage nachdenken können, wie stark Ihre Wut darüber ist, dass ein anderer Mensch Ihnen ein Unrecht zugefügt hat. Das Eingeständnis der eigenen Wut kann sehr schmerzhaft sein, aber bei der Vergebung geht es nicht darum, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre, sich dem Schmerz zu entziehen. Sie leiden unter der Verletzung und müssen sich diesen Sachverhalt ehrlich eingestehen.
    • Wie haben Sie es geschafft, den Umgang mit Ihrer Wut bis jetzt zu vermeiden?
    • Haben Sie sich Ihrer Wut schon einmal gestellt?
    • Haben Sie Angst davor, sich Ihre Scham- oder Schuldgefühle einzugestehen?
    • Hat Ihre Wut Ihre Gesundheit beeinträchtigt?
    • Werden Sie von Gedanken an die erlittene Verletzung oder an den Täter verfolgt?
    • Vergleichen Sie Ihre Situation mit der des Täters?
    • Hat die Verletzung dauerhafte Veränderungen in Ihrem Leben bewirkt?
    • Hat sich durch die erlittene Verletzung Ihre Weltanschauung geändert?
  2. Zweite Phase: Sich zur Vergebung entschließen
    Sich zur Vergebung entschließen. Vergebung setzt voraus, dass man sich dazu entschließt und sich seiner Entscheidung verpflichtet fühlt.
    • Erkennen Sie, dass Ihre bisherigen Bewältigungsversuche gescheitert sind.
    • Seien Sie bereit, sich auf den Vergebungsprozess einzulassen.
    • Entschließen Sie sich zur Vergebung.
  3. Dritte Phase: Am Vergebungsprozess arbeiten
    Der Entschluss zur Vergebung allein reicht noch nicht. Man muss auch handeln, damit die Vergebung zu einer Realität wird. Dieser Schritt gipfelt darin, dass Sie der Person, die Ihnen ein Unrecht angetan hat, ein moralisches Geschenk machen.
    • Bemühen Sie sich um Verständnis.
    • Bemühen Sie sich um Mitgefühl.
    • Akzeptieren Sie den Schmerz.
    • Machen Sie dem Täter ein Geschenk.
  4. Vierte Phase: Erkennen und sich aus dem Gefängnis seiner Emotionen befreien
    "Unversöhnlichkeit, Bitterkeit, Ressentiments und Wut sind den vier Mauern einer Gefängniszelle vergleichbar. Vergebung ist der Schlüssel, mit dem Sie die Gefängnistür öffnen, sodass Sie aus dieser Zelle heraustreten können. Was werden Sie vorfinden, wenn Sie draußen sind? Offen gesagt, lässt sich dies im einzelnen Fall nicht vorhersagen. Ich weiß aber, dass die meisten Menschen, die vergeben haben und mit denen ich spreche, außerhalb ihres emotionalen Gefängnisses viel zufriedener sind als innerhalb der Gefängnismauern. Ich kenne tatsächlich niemanden, der Vergebung geübt hat und in seine Zelle von Ressentiments zurückkehren wollte. Doch außerhalb der Gefängnismauern muss der Vergebende oft bestimmte Anpassungen vor nehmen und sich neue Denk- und Lebensmuster aneignen. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie durch den Vergebungsprozess reifer werden. Vielleicht gewinnen Sie neue Erkenntnisse über den Sinn Ihres Leidens. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie die Charakterzüge annehmen, die Sie schon immer haben wollten. Bei manchen Menschen verläuft die Entwicklung so allmählich und auf so natürliche Weise, dass sie überhaupt nicht merken, wie tiefgreifend sie sich verändert haben. Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Leute darüber nachdenken, wie sie sich durch den Vergebungsprozess verändert haben. In diesem Buch werden Sie Menschen begegnen, die darüber nachdenken, wie sich ihre ursprünglichen Gefühle von Wut, Angst und Hass verwandelt haben und zu Mitgefühl, Wohlwollen und Liebe geworden sind."
    • Erkennen Sie den Sinn Ihres Leidens.
    • Erkennen Sie Ihren Wunsch nach Vergebung.
    • Erkennen Sie, dass Sie nicht allein sind.
    • Erkennen Sie Ihr Lebensziel.
    • Erkennen Sie, welche Befreiung Ihnen die Vergebung bringt.

nach Linden

  • "Weisheitstherapie": kognitive Verhaltenstherapie für Patienten mit Verbitterungsstörung

hilfreiche Aspekte

  • Empathie für den Täter
  • geringer dem Täter zugeschriebene Absicht
  • geringer auf den Täter bezogener Wut
  • Bitte des Täters um Entschuldigung
  • geringer dem Täter zugeschriebener Verantwortung
  • sonst zufriedenstellender Beziehung zum Täter
  • geringes Ausmaß an Grübeln

Quellen und Weblinks