Essstörungen

Aus psych-med

Pathophysiologie

  • "orexisches Netzwerk":
    • "Sättigungszentrum": ventromedialer Hypothalamus (VMH)
    • "Hungerzentrum": lateraler Hypothalamus (LH)
  • Sättigung:
    • Mechanorezeptoren in Magenwand → Dehnung
    • Chemorezeptoren in Darm und Leber → Nährstoffmenge
    • nur gemeinsame Aktivierung → akutes Hungergefühl/Sättigung (nicht bei großer Menge kalorienarme Flüssigkeit oder kleiner Menge energiereicher Nahrung)
    • Verdauung → Insulin/Glukose, Cholezystokinin, Leptin, Ghrelin

Gewichtseinteilung

BMI kg/m2 Einteilung
< 13 hochgradiges Untergewicht Grad II
13-16 hochgradiges Untergewicht Grad I
16-17 mäßiggradiges Untergewicht
17-18,5 leichtgradiges Untergewicht
18,5-25 Normalgewicht
25-30 Übergewicht
30-35 Adipositas Grad I
35–40 Adipositas Grad II
40 Adipositas Grad III
  • Altersperzentilen:
    • Zielgewicht > 25. Altersperzentile
    • Untergewicht < 10. Altersperzentile
    • extremes Untergewicht < 3. Altersperzentile
    • Übergewicht > 90. Altersperzentile
    • Adipositas > 97. Altersperzentile
    • extreme Adipositas > 99,5. Altersperzentile

Früherkennung

  • Risikogruppen:
    • junge Frauen
    • niedriges Körpergewicht
    • unter-/normalgewichtige Frauen mit Gewichtssorgen
    • Zyklusstörungen/Amenorrhoe
    • Hinweise auf Mangelernährung
    • gastrointestinale Syyptome
    • wiederholtes Erbrechen
    • Wachstumsstörung bei Kindern
  • Screening-Fragen:
    • "Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Essverhalten?"
    • "Gibt es etwas, das Sie ändern wollen im Hinblick darauf, was und wieviel Sie essen?"
    • "Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?"
    • "Machen Sie sich Sorgen wegen Ihrer Figur?"
    • "Essen Sie heimlich?"
    • "Kommt es vor, dass Sie sich übergeben, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen?"
    • "Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?"
  • Auffälligkeiten:
    • Körpergewicht und Selbstwertgefühl: Gedanken an Gewicht bzw. dessen Bewertung nehmen wesentlichen Raum ein, keine kritische Distanz möglich, Selbstwertgefühl dadurch erheblich vermindert, dysfunktionale Verhaltensweisen
      • Essanfälle: Kontrollverlust, objektiver/subjektiver Essanfall, "verbotene" Nahrungsmittel, Planung (Einkauf, Störung)
      • gegensteuerndes Verhalten: Purging (Erbrechen, Stuhlgang), exzessiver Sport, Schilddrüsenhormone, Kälte/Hitze, weglassen von Insulin bei DM Typ I
  • Beurteilung:
    • Beeinträchtigung/Gefährdung der körperlichen Gesundheit
    • psychosoziale Funktionsfähigkeit
    • subjektiver Leidensdruck
    • ggf. formale Überprüfung der Kriterien, auch atypische Essstörungen / n.n.b

Diagnostik

  • siehe Anorexie, Bulimie
  • Gewicht: ohne Kleidung, Messung durch Arzt oder Psychologen!
  • Bestimmung von BMI/Perzentile, Cave: Längenwachstum
  • Gewichtsverlauf, z.B. rasche Abnahme
  • Ödeme/Flüssigkeitseinlagerungen
  • Fragebögen (Selbstbeurteilung):
    • EDI-2 = Eating Disorder Inventory
    • EDE-Q = Eating Disorder Examination-Quetionnaire
    • SIAB-S = Fragenbogenversion des SIAB-EX
  • strukturierte Interviews:
    • EDE = Eating Disorder Examination
    • SIAB-EX = Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen
  • Ausschluss:
    • Zöliakie
    • M. Crohn
    • Hypercortisolismus
    • Hyperthyreose

somatische Komplikationen

  • Diagnostik:
    • Körpergewicht und Größe → BMI, Altersperzentile
    • RR, Puls, Temperatur
    • Körperperipherie: Durchblutung, Ödeme
    • Auskultation Herz, Orthostase
    • EKG, evtl. UKG (Perikarderguss?)
    • Labor: BB, BSG, Elektrolyte, Kreatinin, Harnstoff, Transaminasen, Glukose, Urinstatus
  • Besserung durch Gewichtszunahme:
    • fT3-Hypothyreose
    • Amenorrhoe
    • Blutbildveränderungen, Leukopenie
    • Transaminasenerhöhung
    • Hypercholesterinämie
    • Ödeme (v.a. bei Purging): Pseudo-Bartter-Syndrom = Hyperaldosteronismus
    • Peirkarderguss
    • Sinusbradykardie
    • GI-Beschwerden (meist Obstipation)
  • bei Erbrechen:
    • Amylase↑, Speicheldrüsenschwellung
    • Zahnschäden
    • Elektrolytstörungen
  • med. Maßnahmen bei:
    • Osteoporose → Vit. D, Calcium
    • Elektrolyentgleisung → Cave Arrhythmie (Letalität!)
    • ausgeprägten, schmerzhaften Ödemen → ; evtl. Aldosteronantagonist (Spironolacton)
  • Refeeding-Syndrom:
    • meist bei zu schneller (parenteraler) Wiederernäherung
    • Labor: Kreatinkinase↑, Phosphat↓
    • Klinik: Rhabdomyolyse, Herzversagen, epileptische Anfälle, Koma

Symptome

  • Gefühl eigener Unzulänglichkeit
  • Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper
  • Streben nach Perfektionismus
  • Körperschemastörung, veränderte Körperwahrnehmung
  • Essanfälle
  • restriktives Essverhalten
  • gegensteuernde Maßnahmen = Purging: Erbrechen, Diuretika, Laxantien
  • zwanghaftes Bewegungsverhalten

Klassifikation

  • klinisch:
    • Anorexie restriktiv
    • Anorexie Purging-Typ
    • Bulimie
    • Binge-Eating
  • ICD-10:
Essstörungen F50
Anorexia nervosa F50.0
Atypische Anorexia nervosa F50.1
Bulimia nervosa F50.2
Atypische Bulimia nervosa F50.3
Essattacken bei anderen psychischen Störungen F50.4
Erbrechen bei anderen psychischen Störungen F50.5
Sonstige Essstörungen F50.8
Essstörung, nicht näher bezeichnet F50.9

Therapie

  • kein Wirksamkeitsnachweis für Psychopharmaka
  • Olanzapin → bei Zwangssymptomen, Schlafstörungen, exzessivem BEwegungsdrang
  • Ziele:
    • körperliche Gesundheit
    • Normalgewicht
    • Essverhalten
    • Behandlung von Komorbiditäten
    • Wiedereingliederung
    • Verständnis für Entwicklung und Aufrechterhaltung → Selbstwert
  • Funktionalität der Störung:
    • häufiger intrapsychisch als interpersonell (?)
    • Emotionsregulation
    • Sicherheit und Kontrolle
    • Herstellen von Inhalt und Struktur
    • "Hilferuf"
  • keine Überlegenheit eines Verfahrens nachgewiesen
  • bei Kindern/jugendlichen: Familientherapie, familienbasierte Therapie (FBT)
  • Stufentherapie:
    • essstörungsspezifische Beratungsstellen
    • Coaching der Eltern
    • ambulante Therapie
    • Nachsorge:
      • mind. 1 Jahr mind. 1xwöchentlich
      • Selbsthilfegruppen
      • therap. Wohngemeinschaften

stationäre Therapie

  • Indikation:
    • BMI < 15
    • < 3. Altersperzentile
  • Elemente:
    • Psychoedukation
    • therapeutenbegleitete Mahlzeiten
    • Lehrküche
    • Körperbildtherapie (Spiegeltherapie, Körpervideo)
    • soziales Kompetentraining
    • Gestaltungstherapie
    • Bewegungstherapie
    • Sozialtherapie → Transfer, nachstationäre Behandlung
    • klinikinterner Schulunterricht

therapeutische Beziehung

  • Therapiemotivation initial oft ambivalent, bei Kindern/Jugendlichen auch nicht vorhanden
  • therapeutische Haltung:
    • empathisch, wertungsfrei, nicht vorwurfsvoll/verurteilend
    • authentisch, verlässlich, interessiert, nicht sanktionierend
  • gelassen, aber Erkrankung ernstnehmend
  • Information / Psychoedukation
  • Cave kognitive Beeinträchtigungen durch Kachexie
  • gemeinsamer Behandlungsplan, Therapieentscheidungen, Veränderungsbereitschaft
  • Einbeziehung der Eltern bei Kindern/Jugendlichen, Angehörige/Partner bei Erwachsenen, Therapeut dabei neutral
    • Scham-/Schuldgefühle gegenüber den Eltern/Angehörigen beachten → Widerstand
    • Information: Ursachen, Bedingungen, Prognose, Verlauf, körperliche Risiken, Behandlungsmöglichkeiten, Umgang mit Patientin

Weblinks