Angststörungen: Unterschied zwischen den Versionen

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== Grundlagen ==
* oft Komorbidität: Depression, Substanzmissbrauch
* [[Konditionierung|2-Faktoren-Modell nach Mowrer]]
* Aufschaukelungsprozess kognitive (Bewertung) und körperliche Symptome → Teufelskreis "Angst vor der Angst"
* Vulnerabilitäts-Stress-Modell
== Klassifikation ==
== Klassifikation ==


{| class="wikitable"
{| class="wikitable"
! Phobische Störungen !! F40
! Phobische Störungen !! Merkmal !! 12-Monats-Prävalenz
|-
|-
| Agoraphobie ohne/mit Panikstörung || F40.00/.01
| Panikstörung
| plötzlich auftretend, starke körperliche Symptome, Angst zu sterben/verrückt zu werden, unabhängig von Situation/Auslöser
| 3%
|-
|-
| Soziale Phobie || F40.1
| Agoraphobie ohne/mit Panikstörung
| Angst vor Orten, wo Flucht schwierig ist oder peinlich wäre; Begleitperson reduziert Angst
| 3%
|-
|-
| Spezifische Phobie || F40.2
| Soziale Phobie  
| Angst vor Aufmerksamkeit, sich peinlich zu verhalten, negativ bewertet zu werden
| 6%
|-
|-
! Andere Angststörungen !! F41
| Spezifische Phobie
| beschränkt auf einzelne Situation (Spinnen, Blut, Höhe, Enge)
| 8%
|-
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| Panikstörung || F41.0
| [[Generalisierte Angststörung]]
| unterschwelliger Dauerzustand, ständige Sorgen, "Meta-Sorgen"
| 3%
|-
|-
| [[Generalisierte Angststörung]] || F41.1
| Angst und Depression gemischt
|-
| möglichst nicht vergeben
| Angst und Depression gemischt || F41.2
|  
|}
|}


== Manifestation ==
* '''Panikattacke''': starke körperliche Symptome, plötzlich auftretend, klar abgrenzbar, Maximum innerhalb 10 min., Abklingen nach 30 min.
* Agoraphobie: wegen Vermeidung selten Panikattacken!
 
== Diagnose ==
 
* siehe
** [[ICD-10-Agoraphobie]]
** [[ICD-10-Generalisierte Angststörung]]
** [[ICD-10-Panikstörung]]
** [[ICD-10-Soziale Phobie]]
** [[ICD-10-Spezifische Phobie]]
* DSM-5: Panikstörung + Agoraphobie getrennt
* oft nicht erkannt, weil Präsentation von Körpersymptomen statt Angst → '''aktiv Screening-Fragen'''


{| class="wikitable"
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| kognitiv || "Ich kippe um, ich werde verrückt, ich sterbe", Sorgen
| kognitiv || "Ich kippe um, ich werde verrückt, ich sterbe", Sorgen
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* somatische DD
** Lungenerkrankungen (Asthma)
** Herzerkrankungen (Angina pectoris, Arrhythmien)
** neurologische Erkrankungen (Anfallsleiden, [[Schwindel|verstibuläre Störung]]
** endokrine Störungen (Hyperthyreose, Phäochromozytom, Hypoglykämie)
** Substanzmissbrauch/Drogen
* somatische Diagnostik:
** Anamnese/Untersuchung
** BB, BZ, Ca, K, TSH
** EKG mit langem Streifen
** ggf. LuFu, cMRT, EEG
* therapeutische Diagnostik:
*# Ängste → ACQ (Anxiety Cognition Quetionnaire)
*# Symptome → BSQ (Body Symptoms Quetionnaire)
*# Vermeidung → MI (Mobilitätsinventar)
* Komorbidität/Differentialdiagnose:
** [[soziale Phobie]]
** [[Depression]]
** [[GAS]]
** [[Dependente Persönlichkeitsstörung|abhängige]] oder [[Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung|ängstlich-vermeidende PS]]


== Realangst ==
== Realangst ==


* Progredienzangst bei chronischen Erkrankungen
* z.B. Progredienzangst bei chronischen Erkrankungen, reale Bedrohung bei PTSD
 
== Blutphobie/Spritzenphobie ==
 
* typische biphasische autonome Reaktion auf:
*# Sympathikus-Aktivierung → Hypertonie, Tachykardie
*# Überreaktion des Parasympathikus → Hypotonie und Bradykardie → Synkope
* Therapie:
** applied tension = angewandte Anspannung → wiederholte Anspannung großer Muskelpartien
** besser: hinlegen


== Therapie ==
== Therapie ==


* Psychoedukation: Komponenten der Angst und normale Prozesse
* Ziel: Vertrauen in eigenen Körper und Emotionsregulation
* '''Psychoedukation''': Komponenten der Angst und normale Prozesse, erwarteter vs. realistischer Angstverlauf
* Ziele initial divergierend:
** Patient: "Angst soll weg, weniger Angst"
** Therapeut: "Der Weg aus der Angst ist der Weg in die Angst"
** ⇒ Therapiemotivation → Veränderungsmotivation aufbauen (Konsequenzenanalyse, positive Ziele)
* Bedingungsanalyse
* Bedingungsanalyse
* Expositions-/Konfrontationstherapie mit Reaktionsverhinderung → Paradigma seit 20 Jahren
* Analyse und Unterlassen von '''Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten'''
* Makroebene: System/Familie/Beziehungen → Funktionalität
* Makroebene: System/Familie/Beziehungen → Funktionalität, Angehörige einbeziehen
* primär Stabilisierungs- und Affektsteuerungstechniken
* ggf. DBT-Skills vor Exposition, CAVE PTSD
* ggf. DBT-Skills vor Exposition, CAVE PTSD
* Sport
* Rückfallprophylaxe: selbständige Expositionen ohne Therapeut, Umgang mit Rückfällen, Stichtagsregelungen
* Einbezug von Angehörigen: Funktionalität, Rückversicherung/Vermeidung
=== Konfrontationstherapie ===
* '''Setting''': in sensu/in vivo, graduiert/massiert ("flooding"), kurz/verlängert, begleitet/alleine, Einzel/Gruppe
* Vorbereitung:
** medizinische Abklärung
** Was ist die zentrale Befürchtung?
** Wie vermeidet der Patient (Verhalten, kognitiv)
** Hintergrund (Auslöser, Aufrechterhaltung, Krankheitsmodell)
* '''Verhaltensexperimente/interozeptive Exposition/Provokationsübungen''': Hyperventilation, Schwindelübungen, Gegenstand lange halten, körperliche Anstrengung
* therapeutenbegleitete '''Expositions-/Konfrontationstherapie mit Reaktionsverhinderung'''
** Verzicht auf Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten
** erlaubt: Atemtechniken (Vermeidung von Hyperventilation), Realitätstestung, positive Selbstinstruktion
** gemeinsam Befürchtungen verbalisieren → PFC ⇒ Amygdala ↓
* Wirkmechanismen:
*# '''[[Lerntheorie|Habituation]]''' → Konfrontation bis Spannungsabfall notwendig
*# '''Inhibitionslernen'''
*#* bei Angstpatienten Defizite bei der Löschung der Angstreaktion → verhindert Inhibition
*#** neue Erfahrung (in Exposition) stimulusspezifisch, schwer generalisierbar
*#** häufig "Spontanerholung", wenn keine Wiederholung der neuen Erfahrung
*#** hohe Rückfallgefahr
*#* Implikationen für Therapie:
*#** große Diskrepanz zwischen Befürchtung und Erfahrung → flooding, Wahrnehmen der Bewältigung, kognitive Techniken erst nach Exposition
*#** Generalisierung fördern → Wiederholung, unterschiedlicher Kontext, Variation der Stimuli, Analyse nach der Exposition
*#** Ausschleichen der Intensität → größere Zeitspannen, nicht nach Expo-Phase aufhören
*#** Abrufhilfen → Cave: neues Sicherheitsverhalten


== Medikation ==
== Medikation ==


* zugelassen in Deutschland: nur Paroxetin und Sertralin
* in Eindosierungsphase häufig Verstärkung von Unruhe und Angstsymptomen → Aufklären, Durchhalten
* Wirksamkeitsnachweise für Mirtazapin, SNRI, TZA
* SSI/SNRI niedrige Dosis-Response-Kurve → 75% Ansprechen auf niedrige Initialdosis
* ggf. Atypika
* β-Blocker: kurzfristig bei Prüfungsangst
* bei Alpträumen: Olanzapin, Sertralin, Trazodon
* bei Alpträumen: Doxazosin
* Benzodiazepine kontraindiziert im ganzen Prozess, va.a. initial
* nach Remission Fortführung 6-12 Monate in gleicher Dosis
* '''Benzodiazepine''' nur in Ausnahmefällen, ansonsten '''kontraindiziert''' im ganzen Prozess, v.a. initial → verhindern Lerneffekt
 
=== Agoraphobie/Panikstörung ===
 
* 1. Wahl:
** SSRI: Citalopram, Escitalopram, Paroxetin, Sertralin
** SNRI: Venlafaxin
* 2. Wahl: Clomipramin (wenn SSRI/SNRI nicht wirksam/nicht vertragen)
 
=== generalisierte Angststörung ===
 
* 1. Wahl:
** SSRI: Escitalopram, Paroxetin
** SNRI: Duloxetin, Venlafaxin
* 2. Wahl: Pregabalin
* Alternativen: Buspiron, Opipramol
* nicht zugelassen, aber Wirksamkeitsnachweis: Imipramin, Quetiapin
 
=== soziale Phobie ===
 
* 1. Wahl:
** SSRI: Paroxetin, Sertralin, Escitalopram
** SNRI: Venlafaxin
* Alternativ: Moclobemid
 
== Weblinks / Quellen ==


* http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-028.html Leitlinie Angststörungen
* "Panikstörung und Agoraphobie", Petra Kindermann, Marion Mühlberger, Ulrich Voderholzer; PSYCH up2date 2016; 10(02): 115-132
* [https://www.aerzteblatt.de/archiv/200240/ Diagnostik und Therapie von Angsterkrankungen]
* https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2022/may/22/my-life-was-ruled-by-panic-attacks-how-tim-clare-learned-to-cope-with-anxiety


[[Kategorie:Störungen]]
[[Kategorie:Störungen]]

Aktuelle Version vom 9. Mai 2023, 10:00 Uhr

Grundlagen

  • oft Komorbidität: Depression, Substanzmissbrauch
  • 2-Faktoren-Modell nach Mowrer
  • Aufschaukelungsprozess kognitive (Bewertung) und körperliche Symptome → Teufelskreis "Angst vor der Angst"
  • Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Klassifikation

Phobische Störungen Merkmal 12-Monats-Prävalenz
Panikstörung plötzlich auftretend, starke körperliche Symptome, Angst zu sterben/verrückt zu werden, unabhängig von Situation/Auslöser 3%
Agoraphobie ohne/mit Panikstörung Angst vor Orten, wo Flucht schwierig ist oder peinlich wäre; Begleitperson reduziert Angst 3%
Soziale Phobie Angst vor Aufmerksamkeit, sich peinlich zu verhalten, negativ bewertet zu werden 6%
Spezifische Phobie beschränkt auf einzelne Situation (Spinnen, Blut, Höhe, Enge) 8%
Generalisierte Angststörung unterschwelliger Dauerzustand, ständige Sorgen, "Meta-Sorgen" 3%
Angst und Depression gemischt möglichst nicht vergeben  
  • Panikattacke: starke körperliche Symptome, plötzlich auftretend, klar abgrenzbar, Maximum innerhalb 10 min., Abklingen nach 30 min.
  • Agoraphobie: wegen Vermeidung selten Panikattacken!

Diagnose

Ebene Symptome
emotional hilflos, ängstlich
Verhalten Vermeidung, Flucht, Rückzug
somatisch Schwitzen, Herzrasen, Schwindel
kognitiv "Ich kippe um, ich werde verrückt, ich sterbe", Sorgen
  • somatische DD
    • Lungenerkrankungen (Asthma)
    • Herzerkrankungen (Angina pectoris, Arrhythmien)
    • neurologische Erkrankungen (Anfallsleiden, verstibuläre Störung
    • endokrine Störungen (Hyperthyreose, Phäochromozytom, Hypoglykämie)
    • Substanzmissbrauch/Drogen
  • somatische Diagnostik:
    • Anamnese/Untersuchung
    • BB, BZ, Ca, K, TSH
    • EKG mit langem Streifen
    • ggf. LuFu, cMRT, EEG
  • therapeutische Diagnostik:
    1. Ängste → ACQ (Anxiety Cognition Quetionnaire)
    2. Symptome → BSQ (Body Symptoms Quetionnaire)
    3. Vermeidung → MI (Mobilitätsinventar)
  • Komorbidität/Differentialdiagnose:

Realangst

  • z.B. Progredienzangst bei chronischen Erkrankungen, reale Bedrohung bei PTSD

Blutphobie/Spritzenphobie

  • typische biphasische autonome Reaktion auf:
    1. Sympathikus-Aktivierung → Hypertonie, Tachykardie
    2. Überreaktion des Parasympathikus → Hypotonie und Bradykardie → Synkope
  • Therapie:
    • applied tension = angewandte Anspannung → wiederholte Anspannung großer Muskelpartien
    • besser: hinlegen

Therapie

  • Ziel: Vertrauen in eigenen Körper und Emotionsregulation
  • Psychoedukation: Komponenten der Angst und normale Prozesse, erwarteter vs. realistischer Angstverlauf
  • Ziele initial divergierend:
    • Patient: "Angst soll weg, weniger Angst"
    • Therapeut: "Der Weg aus der Angst ist der Weg in die Angst"
    • ⇒ Therapiemotivation → Veränderungsmotivation aufbauen (Konsequenzenanalyse, positive Ziele)
  • Bedingungsanalyse
  • Analyse und Unterlassen von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten
  • Makroebene: System/Familie/Beziehungen → Funktionalität, Angehörige einbeziehen
  • ggf. DBT-Skills vor Exposition, CAVE PTSD
  • Sport
  • Rückfallprophylaxe: selbständige Expositionen ohne Therapeut, Umgang mit Rückfällen, Stichtagsregelungen
  • Einbezug von Angehörigen: Funktionalität, Rückversicherung/Vermeidung

Konfrontationstherapie

  • Setting: in sensu/in vivo, graduiert/massiert ("flooding"), kurz/verlängert, begleitet/alleine, Einzel/Gruppe
  • Vorbereitung:
    • medizinische Abklärung
    • Was ist die zentrale Befürchtung?
    • Wie vermeidet der Patient (Verhalten, kognitiv)
    • Hintergrund (Auslöser, Aufrechterhaltung, Krankheitsmodell)
  • Verhaltensexperimente/interozeptive Exposition/Provokationsübungen: Hyperventilation, Schwindelübungen, Gegenstand lange halten, körperliche Anstrengung
  • therapeutenbegleitete Expositions-/Konfrontationstherapie mit Reaktionsverhinderung
    • Verzicht auf Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten
    • erlaubt: Atemtechniken (Vermeidung von Hyperventilation), Realitätstestung, positive Selbstinstruktion
    • gemeinsam Befürchtungen verbalisieren → PFC ⇒ Amygdala ↓
  • Wirkmechanismen:
    1. Habituation → Konfrontation bis Spannungsabfall notwendig
    2. Inhibitionslernen
      • bei Angstpatienten Defizite bei der Löschung der Angstreaktion → verhindert Inhibition
        • neue Erfahrung (in Exposition) stimulusspezifisch, schwer generalisierbar
        • häufig "Spontanerholung", wenn keine Wiederholung der neuen Erfahrung
        • hohe Rückfallgefahr
      • Implikationen für Therapie:
        • große Diskrepanz zwischen Befürchtung und Erfahrung → flooding, Wahrnehmen der Bewältigung, kognitive Techniken erst nach Exposition
        • Generalisierung fördern → Wiederholung, unterschiedlicher Kontext, Variation der Stimuli, Analyse nach der Exposition
        • Ausschleichen der Intensität → größere Zeitspannen, nicht nach Expo-Phase aufhören
        • Abrufhilfen → Cave: neues Sicherheitsverhalten

Medikation

  • in Eindosierungsphase häufig Verstärkung von Unruhe und Angstsymptomen → Aufklären, Durchhalten
  • SSI/SNRI niedrige Dosis-Response-Kurve → 75% Ansprechen auf niedrige Initialdosis
  • β-Blocker: kurzfristig bei Prüfungsangst
  • bei Alpträumen: Doxazosin
  • nach Remission Fortführung 6-12 Monate in gleicher Dosis
  • Benzodiazepine nur in Ausnahmefällen, ansonsten kontraindiziert im ganzen Prozess, v.a. initial → verhindern Lerneffekt

Agoraphobie/Panikstörung

  • 1. Wahl:
    • SSRI: Citalopram, Escitalopram, Paroxetin, Sertralin
    • SNRI: Venlafaxin
  • 2. Wahl: Clomipramin (wenn SSRI/SNRI nicht wirksam/nicht vertragen)

generalisierte Angststörung

  • 1. Wahl:
    • SSRI: Escitalopram, Paroxetin
    • SNRI: Duloxetin, Venlafaxin
  • 2. Wahl: Pregabalin
  • Alternativen: Buspiron, Opipramol
  • nicht zugelassen, aber Wirksamkeitsnachweis: Imipramin, Quetiapin

soziale Phobie

  • 1. Wahl:
    • SSRI: Paroxetin, Sertralin, Escitalopram
    • SNRI: Venlafaxin
  • Alternativ: Moclobemid

Weblinks / Quellen